Sonntag, 11. März 2018

Die Faszination des indischen Tantras


Anfang März 2018 besuchte ich am Yogazentrum Ulm bei Dr. Christian Fuchs das Seminar „Der indische Tantra und das Hatha-Yoga-System“. Ein sehr faszinierendes Thema. Vielleicht regt es ja auch dich zum Nachdenken an oder lässt dich zu neuen Erkenntnissen kommen. Da die Tantra-Tradition aber sehr komplex ist, lese diesen Blog-Eintrag mit dem Bewusstsein, dass ich das Gehörte so richtig wie möglich wiedergeben zu versuche. Sei dir bewusst, bei jeder weitererzählten Geschichte geht evtl. ein Detail verloren.

Seit Oktober 2014 bin ich nun in der Ausbildung zur Yogalehrerin. Ein langer Weg den ich ganz bewusst gewählt habe. Für mich als ungeduldigen Menschen, der gerne direkt und ohne Umwege ans Ziel kommt, manchmal eine Herausforderung. Aber gerade jetzt im Aufbaustudium zur Yogalehrerin merke ich, wie alles einen Sinn gibt und wie sich alles zusammenfügt. Und das braucht tatsächlich auch Zeit, viel Zeit. Meine Erkenntnisse über die Veden, die Upanisaden, die Bhagavadgita, den Hatha-Yoga, Kundalini-Yoga, Meditation, Bhakti, Karma, Dharma und den Tantra…,  – so langsam nähere ich mich dem Verstehen und Erfassen der Komplexität. Viele Einzelheiten und Details geben ein großes Ganzes. Ähnlich wie beim Tantra. Tantra bedeutet Gewebe, alles verbunden. Beim Weben werden auch viele einzelne Fäden miteinander verbunden und es entsteht ein großes Ganzes – ein Gebilde.



Bei Tantra denken sicherlich viele Menschen an Massagen und sexuelle Praktiken, aber wer den Tantrismus in seiner Tiefe erfasst hat, der weiß, es geht um spirituelle Entwicklung und so vieles mehr. Tantra hat den Hatha-Yoga nachhaltig beeinflusst und im Tantra erfährt das Weibliche eine besondere Wertschätzung.

Wenn man sich die verschiedenen Epochen anschaut, so lassen diese sich in verschiedene Lebensphasen aufteilen: 
  • Die vedische Zeit ist die Zeit des Kindseins (Zugehörigkeit).
  • Die Zeit der Upanisaden lässt sich der Pubertät zuordnen (man probiert sich aus, geht evtl. auch in Extreme).
  • Die epische Zeit ist die Zeit, in der ein Beruf ergriffen und eine Familie gegründet wird.
  • Tantra wäre dann die Zeit, der Midlife-Crisis. Die Zeit, in der Dinge in Frage gestellt werden.

Nicht alle kommen in eine Midlife-Crises und es wurde auch nicht ganz Indien von der Tantra-Bewegung erfasst. Tantra ist vielmehr in den Randgebieten von Indien entstanden. Vom Tantra erfasst wurden Menschen, die unterdrückt wurden. Z. B. Frauen, die sich nicht als Frau entwickeln durften. Wenn du dich irgendwann auf Sinnsuche begibst, dich und dein Leben in Frage stellst, dann beginnst du nach Alternativen zu suchen.

Tantra liebt Fragen - mehr als Antworten.

Tantra liebt
  •    den Spott, die Provokation (gute Karikaturen regen auch zum Nachdenken an?)
  •    Fragen
  •   Offenheit

Haben nicht auch alle herausragenden Wissenschaftler in  irgendeiner Art und Weise provoziert? Ich denke, für jegliche Art von Entwicklung sind entstandene Zweifel die Antreiber.

Tantra sieht die Welt als Ort der Freude. Sei mit all deinen Sinnen da!
Bhoga Loka. Bhoga ist der sinnliche Genuss und Loka bedeutet Welt.

Wie isst du Schokolade? Gierig und hastig mit Hunger auf Süßes als Ersatzbefriedigung und Gegenpol zu einem anstrengenden Arbeitstag. Immerhin schüttet dein Körper durch den Genuss von Schokolade Serotonin aus, ein Botenstoff der glücklich macht. Genau der richtige Ausgleich, nach deinem Hardcore-Arbeitstag.

Der Tantriker wird die Schokolade bewusst und voller Genuss zu sich nehmen. Er macht ein sinnliches Erlebnis daraus. Zunächst wird der Duft der Schokolade wahrgenommen ehe er sich von ihr verführen lässt und sie vernascht. Die Sinne sind die Pforten zur Freude. Da der Tantriker seinen Körper als Tempel des Göttlichen ansieht, ist er bereit ihn gut zu hegen und zu pflegen. Der Schokoladengenuss wird sich daher auch in Grenzen halten, denn ein Zuviel könnte den Tempel verunstalten.

Tantriker treffen bewusste Entscheidungen und sie schauen sich Energien an. Ein tantrischer Lebensstil ist äußerst anstrengend,  weil alles bewusst gewählt wird.

Fasziniert hat mich der Göttermytos SAKTI – SIVA

Wir haben uns ein Bildnis angesehen, bei dem Sakti auf Siva (Sava=Leichnam) steht. Sakti symbolisiert das Weibliche, Siva das Männliche. Zwei polare Energien die sich vereinen können und doch eins sind. Die Sakti auf dem Bildnis hatte 4 Arme, in einer Hand ihrer rechten Körperseite hielt sie eine Blume, symbolisch für das Leben, das Wachsen, das Gedeihen und in der anderen bildete sie die Mudra des Schutzes. Ihre rechte Seite ist die friedliche und kreative Seite. In den beiden linken Händen hält sie einmal eine Schere, mit der sie den Lebensfaden abschneidet und in der anderen Hand hält sie eine Sichel mit der sie köpft. Ihre linke Seite ist die zerstörerische Seite, die auch für Auflösung und Umwandlung steht.

Ich habe mal an meine Kreativität angezapft und das Bildnis abgemalt.



Interessant fand ich in diesem Zusammenhang, dass ja die linke Seite Ida, die Mondkraft repräsentiert und die rechte Seite Pingala die Sonnenkraft. Hat Sakti die zerstörerischen Gerätschaften wie die Schere und den Sichel in ihren linken Händen, weil Umwandlung und Auflösung nur in der Stille im Rückzug stattfinden kann? So faszinierend diese Thematik ist, so sehr regt sie mich auch zum Nachdenken an. 

Siva, das Männliche, braucht Struktur, bezieht sich auf die Materie, auf die Form.
Sakti, das Weibliche, ist Kreativität und Bewegung. Sakti ist kosmische Energie.

In jedem von uns, egal ob Frau oder Mann, sind immer weibliche und männliche Anteile.
C. G. Jung sprach von den Archetypen Anima und Animus.

Interessant ist, dass Amokläufer überwiegend Männer sind. Oder auch die schrecklichen Diktatoren aus der Vergangenheit waren Männer. Durften diese Männer irgendwelche Anteile in sich nicht ausleben, so dass Energie fehlgeleitet wurde? Alles im Leben ist mehr oder weniger Energie. Der Mensch ist ein regelrechtes Energiekraftwerk. Irgendeine Energie scheint bei diesen Menschen explodiert zu sein.

Sakti wird zur Kali, wenn sie das Ego tötet. Symbolisch hält Kali hierfür einen Kopf in der Hand. In der Gegenwart gibt es kein Ego. EGO ist das nicht JETZT. Ego gibt es immer nur in der Vergangenheit oder in der Zukunft.

Wenn wir in der Meditation sitzen und uns ganz auf das hier und jetzt konzentrieren, unseren Atem beobachten, da schlummert dein Ego. Auch in ganz existentiellen Lebenssituationen wie bei einer Geburt oder in Trauersituationen sind wir niemals im Ego. Ja, sogar beim Orgasmus sind wir definitiv nicht im Ego → Das Ego stirbt im Orgasmus. Da bist du jenseits jeglicher Kontrolle und in unserem durch getakteten Alltag verspüren wir doch eine große Sehnsucht mal das Unkontrollierte zu erfahren. Auf der anderen Seite gibt es aber so viele Menschen die eine absolute Angst vor Kontrollverlust haben. Es gibt viele Menschen, die nicht in Savasana (in einer reglosen Rückenlage) auf dem Boden liegen können.

Mit dem Hatha-Yoga wurden Formen entwickelt um jung und fit zu bleiben = männliches Prinzip. Es wurden Praktiken angewandt, mit dem großen Wunsch dem Tod zu entgehen. Das männliche Prinzip hat Angst vor dem Vergänglichen. Muss Sakti, als kosmische Energie, Angst haben?  Wohl eher nicht. 

"Tantra möchte Mut für Vertrauen machen." Nach unzähligen Yoga-Nidra-Reisen (Yoga Nidra hat seine Wurzeln in der tantrischen Wissenschaft) kann ich dieser Aussage aus tiefstem Herzen nur zustimmen. Vertrauen ist der Schlüssel für Veränderungsprozesse. 


Das waren nun 19 DIN A5 – Seiten von meinen insgesamt 31 Seiten handschriftlichen Notizen vom Seminar. Einem Dozenten, wie Dr. Christian Fuchs, könnte ich ewig zuhören und ich habe dieses Wort „ewig“ bewusst gewählt. Er schafft es immer wieder einen anschaulichen Transfer der alten Überlieferungen in die Jetzt-Zeit darzustellen. Informationen über Dr. Christian Fuchs und seine Seminare erhältst du unter folgendem Link www.yoga-akademie.de


Namaste
Bettina